Ruhe vor dem Sturm

Der Mann auf dem Foto ist nicht mehr jung, eher älter, dabei wirkt er vital, jugendlich gealtert. Er ist schlank, vermutlich nicht sehr groß. Er blickt ernst aus dem Bild heraus, am Betrachter vorbei. Eine Decke liegt auf seinen Schultern und verhüllt den Oberkörper zur Hälfte. Unter der Decke ist er nackt. Legt er sich das Tuch gerade um oder legt er es ab, enthüllt oder verbirgt er sich? Eine Existenzsituation ist beleuchtet: sich offenbaren oder sich bedecken. Sich stellen oder sich verstecken. Die meisten Menschen flüchten und verkapseln sich. Die Kamera erfasst den Mann in einem Moment des Übergangs. Decke, Arme und Oberkörper beschreiben eine stabile Form wie ein Dach, und doch herrschen Bewegung und Regung in dem Bild: ein angehaltener Moment, hinter dem die Zeit weiter läuft, eine Präsenz mit einem inneren Puls, der keine Skulptur entstehen lässt, sondern Elastizität und Elan in stiller Pose. Damit wirkt der Mann versammelt, bei sich und doch weisen sein Blick und seine Miene über ihn hinaus, in andere Zeiten, andere Räume, andere Identitäten. In diesem Augenblick versammelt sich eine Biografie. Das können wir mehr spüren als sehen, wir können keine Fakten erschließen, aber wir erkennen das Faktum eines gelebten Lebens. Ein Leben zeigt sich und zugleich das Leben, individuell und universell im Porträt eines älteren Menschen und im Bild eines Alters, dem wir im Wortsinn mit Respekt, mit Zurückblicken, begegnen. Die nackte Haut fordert nicht nur eine optische Identifizierung, sondern auch eine Berührung mit dem Auge heraus. Das Fremde zieht uns ins Vertrauen. Der Mann berührt uns und rührt uns. Seine Präsenz inszeniert eine stille Kommunikation. Wir sehen ihn und wir sehen auch uns, denn jede Betrachtung eines anderen Menschen gleicht einem Blick in den Spiegel, wir gleichen ab und vergewissern uns dabei unserer eigenen Existenz.

Christine Henke fotografiert ältere unbekleidete Menschen, aller Attribute ledig, in einem offenen Raum. Als stummer Partner steht ihnen ein schwarzer Quader zur Seite. Sie können sich auf ihn setzen, hinter ihn stellen, sich an ihn lehnen, auf ihn beugen. Sie können von sich so viel zeigen wie sie mögen. Ansonsten sind sie nackt im leeren Atelier. In der Interaktion mit dem Requisit im reduzierten und doch weiten Grau-Spektrum der Schwarz-Weiß-Fotografie entfaltet sich ein Wechselspiel von Enthüllen und Verbergen. Unsere Haut ist eine Schnittstelle, an der wir uns stellen und an der uns die Welt attackiert. Die Gesellschaft schreibt sich darin ein mit ihren Codes. Unsere Falten sind die Spuren unserer Reaktion auf die Außenwelt. Speziell unser Gesicht liegt immer bloß, ist immer vorneweg.
Die Körper der Menschen, die Christine Henke fotografiert hat, zeigen Alterspuren. Diese bilden ein persönliches Profil aus, eine Topographie gelebten Lebens, in die sich Erfahrung eingraviert hat. Indem sie sich entblößen, fordern uns die Menschen in den Bildern einen besonderen Blick ab. Indem wir sie ansehen, bezeugen wir ihre Existenz und Identität. Kein Attribut lenkt von ihrem puren Sein ab. Individualität stellt sich über Norm. Die Menschen in diesen Porträts sind kein unbeschriebenes Blatt mehr, doch viele Seiten in ihren Memoiren stehen noch aus. Ihre Gestalt ist ihre visuelle Biografie. Die einzelne individuelle Existenz lässt sich niemals ganz ergründen, weil niemand ganz aus seiner Haut will und kann und vielleicht auch weil der Kern eines Menschen eine schwankende Größe ist. Kaum fotografisch festgehalten, fließt das innere und äußere Leben weiter und doch verdichtet es sich auch in jedem einzelnen Augenblick.

Ausschnitt aus dem Text des Kataloges „Ruhe vor dem Sturm“
von Rainer Beßling